Leute Leute Leute
Eröffnung 03.07.2014, Gedok-Galerie
von Vivien Sigmund
„Leute, Leute. Leute“, so lautet der Titel dieser Ausstellung. Wenn ein Satz so anfängt, wird er meist von einem Kopfschütteln begleitet und endet selten positiv. Man vermeint regelrecht die begleitende hochgezogene Augenbraue zu hören. Im Schwäbischen – hier klingt es meist eher nach „Leut´, Leut´, Leut´“, und im Kontext einer Arbeitssituation ist diese entindividualisierende Anrede im Normalfall die Einleitung zu einem mehr oder weniger entnervten Tadel. Hier sind wir schon beim Thema. Nicht die hochgezogene Augenbraue, denn ohne die kommt die Kunst von Daniela Wolf wunderbar aus, sondern die Feldforschung ganz allgemein und „hier unten“ im Schwabenland im Besonderen ist ein wichtiger Bestandteil in der Arbeitsweise der gebürtigen Ostberlinerin. Und überhaupt spiegelt sich in der Wortreihung ganz formidabel die Kunstauffassung von Daniela Wolf.
Spontan springt einem natürlich als erstes der Wortsinn ins Auge: die Leute tummeln sich nämlich nicht nur im Titel sondern offensichtlich auch auf den Fotografien. Die Künstlerin und Fotografin präsentiert uns in dieser Ausstellung vier verschiedene Serien bzw. Bilder: Leute, Leute und eben Leute und einmal das Umfeld von Leuten. Schon ein sehr oberflächlicher Blick auf die Fotografien genügt, um zu zeigen, dass sich Daniela Wolf den Menschen fotografisch auf sehr unterschiedliche Art und Weise annähert. Da haben wir einmal irrwitzige, aus der Situation heraus entstandene Schwarzweißfotografien, reduzierte, beinahe typologisch anmutende Porträts von Jugendlichen und Kindern, das menschenleere Stillleben und dieses statuarische Einzelbild auf Fototapete.
Um das Rätsel gleich aufzulösen, eine Gemeinsamkeit der Bilder liegt im Entstehungsprozess, der salopp gesagt beinahe beiläufig erfolgt. Picken wir uns doch erst einmal das Wandbild heraus. Daniela Wolf hat von der Villa Merkel den Auftrag erhalten, den Auftritt des Bewegungschores zu dokumentieren, ein von einer Künstlergruppe ins Heute überführte Phänomen aus den Zwanziger Jahren, das jeden Zuschauer zum Ensemblemitglied einer kollektiven Tanzaufführung macht. Jeden Zuschauer? Nein, es gibt da eine unbeugsame Zuschauerin, die sich der Gruppendynamik zu widersetzen versteht. Am linken Bildrand steht ganz in Weiß gekleidet eine Dame, deren Walking-Stöcke sie eindeutig als einen zufälligen Zaungast ausweisen. Sie beobachtet das Geschehen aus einer faszinierten und faszinierend minimalen Distanz heraus, ohne sich bewusst zu sein, dass sie selbst sich direkt im Blickfeld der Fotografin positioniert hat. Wir hier in der Galerie werden auf diese Weise Zeugen des Beobachtens und schauen in einer herrlichen Doppelung der zuschauenden Dame in Lebensgröße beim Zuschauen zu.
Statt sich also aufzuregen, dass sich da jemand so unverblümt ins Bild pflanzt, ich sage nur „Leut´, Leut´, Leut“, nutzt Daniela Wolf die Gunst der Stunde und hält diesen skurrilen Augenblick in Eigenregie fest. Der Kontext rutscht damit augenzwinkernd vom offiziell Dokumentarischen in Richtung des schrullig Künstlerischen, von möglichst objektiv zu subjektiv, von klar zu hintergründig.
Und dann hat die Zuschauerin auch noch etwas unerhört Schwäbisches. Dieses Foto ist Feldforschung in Reinkultur, der Schwabe in freier Wildbahn, Leut´, Leut´, Leut´, da fehlt nur noch das Kissen auf dem Fenstersims, um dem Kucken in aller süddeutsch breiten Gemütlichkeit frönen zu können. Da braucht es einen fotografischen Blick, der ebenso scharf ist wie augenzwinkernd. Und gleichzeitig ein äußerst entspanntes, wenn nicht gar schwäbisches Verhältnis zur Fotografie. Da hat die Assimilation die Ostberlinerin fest im Griff, denn wenn man ohnehin schon mal vor Ort ist, kann man doch auch gleich Kunst machen. Klingt banal, aber seien wir doch mal ehrlich, wer hat den mitten im Arbeitsstress für die kleinen Ironien des Alltags schon einen Blick?
Auf diese Art schwappt dann eben das Dokumentarische ins künstlerisch Eigene, die Inszenierung in den Schnappschuss hinein und die ganzen Genre-Grenzen beginnen fröhlich zu flimmern. Der Begriff Schnappschuss stammt aus der Jägersprache und meint das Schießen aus der Hüfte ohne sorgfältiges Zielen. Aber kann man denn da noch von Schnappschuss reden, wenn die Schützin quasi mit geladener Kamera schussbereit auf der Lauer liegt? Und wenn das, was vor ihr sich abspielt eine astreine Inszenierung ist? Fragen über Fragen tun sich da auf, die vor allem mal wieder zeigen, dass es einfach zu wenig kategoriale Schubladen für reale Möglichkeiten auf dieser Welt gibt.
Was war noch mal Fotografie, eine Nabelschnur in die Vergangenheit? Wie wahr, wie wahr und doch interpretiert Daniela Wolf das ganz anders als Roland Barthes sich das hätte je erträumen lassen:
Denn die Schwarzweißbilder sind in einer Situation entstanden, in die sich die Fotografin gestürzt hat und gestürzt hatte. Daniela Wolf hat ein Faible für Doppelungen, nicht umsonst hieß ihre Abschlussarbeit an der hiesigen Kunstakademie Part 2 und zeigte ausnahmslos Dinge und Accessoires, die in der fotografierten Situation zweimal vorhanden waren. Bei der Serie hier an der Wand, die den Titel Substitut (1990) trägt, besteht der Doppelungseffekt aus einem imaginierten Zeitsprung. Die Netzwerkerin Daniela Wolf, auch das ein Grundaspekt ihrer Kunstauffassung, fotografierte den Auftritt der Akademischen Betriebskappelle, wir schreiben das Jahr 2014. Masken, Kostüme und Bühnendekor entsprachen dem Motto des Abends, nämlich eine musikalische Battle gegen die Cannibal Girls. Komprimiert in Ausschnitten und Schwarzweiß zeigen uns die Bilder indes jene Erinnerungsblitze, die Daniela Wolf beim Auftritt überfielen: Schauen sie nur mal auf die explosive Energie der Performance, die irrwitzig wuchernden Achselhaare, die verwegenen Klamotten in halsbrecherischen Kombinationen. Es ist das Berlin im Jahr 1990, das sich hier mittels fotografischer Einflussnahme Bahn bricht und das Daniela Wolf in vorderster Front mit Dada Performances im besetzten Haus hautnah miterlebt hat. Hier setzt sie die Fotografie fast schon klassisch ein, um in der Vergangenheit zu schwelgen, nur mit dem kleinen Kniff, dass die Vergangenheit eben die Gegenwart ist. Oder war.
Auf eine waghalsige Art, kann man die Substitute auch als Künstlerporträts ansehen. Und da wären wir dann bei der dritten hier ausgesellten Serie: den Porträts der Kinder und Jugendlichen. Stilistisch könnten die unterschiedlicher kaum sein. Eine Tischplatte, viel Nichts, ein distanzierter Blick, jede Aufnahme zweimal, frontal und im Profil, wie bei Polizeifotos. Der Reiz lag hier für Daniela Wolf in der Neutralität, sie wollte sich versuchen an einer anderen Art fotografischer Sprache und nutzte die Gelegenheit, als sie Silvester 2012 mit einer Gruppe Jugendlicher verbrachte. Eins dieser Kinder ist ihr Neffe, würden Sie ihn erkennen? Ist eins der Porträts weniger neutral als die anderen? Ist überhaupt eines neutral? Kann Fotografie überhaupt neutral sein oder andersherum gefragt, kann sie etwas anderes sein als neutral?
Und wie neutral, oder eben dokumentarisch, ist der herbe Kontrast zwischen bunter Spielwelt und grauer Bodenabwehrraketen, so gesehen vergangene Woche, als die Künstlerin zum Ausstellungsaufbau nach Tel Aviv reiste?
Und was passiert eigentlich, wenn Bilder lebendig werden und das doppelte Lottchen (ausnahmsweise halbiert statt gedoppelt) das Klavier aus seinem für die Zeit von Ausstellungen anberaumten Dornröschenschlaf reißt?
Liebe Leute, wenn sie dachten, sie wüssten, was Fotografie ist, dann belehrt sie Daniela Wolf ganz im sokratischen Sinne eines Besseren. Nach dieser Ausstellung wissen sie, dass sie es nicht wissen. Und das ganz ohne hochgezogene Augenbraue.